Exemplarisch gewählter Ausgangspunkt für das Forschungsprojekt ist das durch den Braunschweiger Mathematiker und Entomologen Johann Christian Ludwig Hellwig 1780 entwickelte Kriegsspiel, dargelegt in der Schrift »Versuch eines aufs Schachspiel gebaueten taktischen Spiels von zwey und mehreren Personen zu spielen«. Auf den ersten Blick mag es verwundern, dass sich ausgerechnet Medienwissenschaftler statt mit den Einschaltquoten des Fernsehens mit der Geschichte des Kriegsspiels auseinander setzen. Wenn man aber unsere Informations- und Mediengesellschaft verstehen will, dann muss man auch den Zusammenhang von Spielen und Lernen, von Medienwirkung, Medientechniken und digitalen Medien untersuchen.
Hellwig, am 08. 11. 1743 in Garz (Vorpommern) geboren und am 10. 10. 1831 in Braunschweig verstorben, war ab 1771 Lehrer an zwei Schulen in Braunschweig, übernahm dann den Lehrstuhl für Philosophie an der Universität zu Helmstedt und wechselte 1790 auf den Lehrstuhl für Mathematik und Naturwissenschaften an der Militärschule in Braunschweig. 1802 wird Hellwig Hofrat und Professor am Carolinum in Braunschweig. Er machte sich einen Namen als Wegbereiter der modernen Lebensversicherung und besaß eine große Insektensammlung.
Hellwigs schachbasiertes Kriegsspiel von 1780 steht im engen Zusammenhang mit anderen Strategie- und Taktikspielen. Zu nennen wären exemplarisch Christoph Weickmanns Schachspiel von 1644, die Kartenspiele wie Jeu de la Guerre und Jeu de la Fortification des frühen 18. Jahrhunderts oder Georg Venturis 1797 entwickeltes Kriegsspiel Regeln für ein Neues Kriegsspiel für den Gebrauch an Militäranstalten sowie das Kriegsspiel des Barons von Reißwitz von 1811. Das Hellwigsche Spiel stellt sich als eine Spielanleitung in Buchform, durch ein Spielbrett sowie (durch den Benutzer noch herzustellende) unterschiedliche Spielfiguren dar. Die Spielanleitung ist als eine Form des Algorithmus der Spielstärke, Mobilität und Effektivität der Spielfiguren zu verstehen, die wiederum als Platzhalter für Infanteriebataillone, Kavallerieeskadrone oder Artilleriebatterien stehen.
Das Spielbrett stellt variable unterschiedliche Geländeformen dar und kann mithilfe von Brustwehren, Brücken oder brennenden Gebäuden variabel gestaltet und fiktiven wie realen Geländeformen angepasst werden. Der Anspruch von Hellwig war es, eine kostengünstige und spielbare Kriegssimulation zu erschaffen. Hellwigs Spiel kann als frühe Form des sogenannten ›tabletop games‹ gelten. Als Table Top bezeichnet man ein Strategiespielsystem, bei dem Miniaturen (früher aus Zinn gegossen oder aus Papier ausgeschnitten, heute meist Zinn- oder auch Kunststofffiguren) auf einer Oberfläche ohne Spielfelder bewegt werden. Der Autor fantastischer Geschichten H.G. Wells gilt auch als einer der bekanntesten Autoren solcher ›Little Wars‹. Die heutigen Tabletop-Spiele (wie Warhammer oder Battletech) sind als Weiterentwicklungen solcher Kriegsspiels zu verstehen.
All diesen historisch wie genrebezogenen Spielkonzepten liegt ein mehr oder weniger ausgeprägtes strategisches Potential des spielerischen Handelns zugrunde. Diese Konzepte eint die Idee des ›konsequenzenlosen‹ Handeln aufgrund ökonomischer, politischer, sozialer oder subjektiver Handlungsanweisungen und Regelsets. Im Rahmen unseres Forschungsprojekts ist das Hellwigsche Spiel anhand der Spielanleitung der zweiten Auflage rekonstruiert und praktisch erprobt wurden. Das Spielbrett wird in die Sammlung des Computerspiele Museums Berlin übergehen. Ausgewählte Ergebnisse der Rekonstruktion stellen wir hier zum Download zu Verfügung. Eine ausführliche Darstellung des Spiels inklusive einer überarbeiteten Spielanleitung finden Sie in unserer Publikation “Die Auftritte des Krieges sinnlich machen.”
Aufnahmen des rekonstruierten Spielbretts
Historisches Material von und über Hellwig
Ergänzungsmaterial zum Download
Weiterführende Links
- Eintrag zu Hellwig in der Allgemeinen Deutschen Biographie
- Eintrag zu Hellwig in der Neuen Deutschen Biographie
- Digitalisierte Fassung der Hellwigschen Originalanleitung